Reeto von Gunten

Intro

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Seite A

[Eine Plattenspielernadel wird aufgesetzt, es knistert.]

Die Single war früher meine einzige Möglichkeit, Musik zu hören. Genau die, die ich wollte, und das, so oft ich wollte. Dank dem elterlichen Plattenspieler fand ich zu mir. Musik war der Nährboden meiner Jugend, der Soundtrack meiner Selbstfindung. Aus Traumschlössern baute ich mir meine Identität, einsame Paartanz-Übungen gaben mir Mut, Hirngespinst-Kopffilm-Soundtracks machten aus mir einen Helden, Erlöser, Vagabunden und schliesslich einen Popstar – allerdings nur vor dem Wohnzimmerfenster, das durch die Dunkelheit draussen als Spiegel diente. Dort tänzelte ich zu den Beatles und winselte mit Prince. Ich lernte mich, alle und alles kennen, Musik schrieb meine ersten Geschichten. Nur, bewusst war mir das zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich war einfach nur ich, so gut wie jeweils möglich. Durch, mit und dank der Musik.
Die beste Musik gab es als Einzelstück im Radio-Fachgeschäft.
Um Kreditwürdigkeit zu versichern, musste ein Fünfliber vorgewiesen werden, erst dann durfte man das Vinylstück der Begierde kreisen sehen und sich darin für dreieinhalb Minuten verlieren. “Nein, keine Rückseiten und höchstens drei Singles aufs Mal!” Die Regeln waren hart und so wurden die telefonartigen Hörer so dicht wie möglich an den Kopf gepresst und die Augen geschlossen, um bloss nicht jenen Moment zu verpassen, der einen fühlen liess, ob sich die Investition des Batzens lohnen würde. Offenbar stellte sich mir dabei regelmässig eine frühpubertäre Trance ein. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb ausgerechnet Suzy Quattros Devil Gate Drive meine erste so erstandene Errungenschaft und zu Hause so lange repetiergehört wurde, bis mir der Kunstleder-Overall-Rock’n’Roll aus den eigenen Poren quoll.
Das war, was ich unter “Single” verstand – bis ich selber einer wurde.
Irgendwann während der Pubertät fand ich heraus, dass das gleiche Wort meine Position in der Gesellschaft bezeichnete. Dabei war Alleinsein bis dahin mein Normalzustand gewesen. Ich war allein, meistens zwischen zwei Lautsprechern, und zufrieden in meiner Position. Doch auf einmal war alles anders. Ich war, ob es mir passte oder nicht, Single – allerdings auch Plattensammler, zum Glück. Ohne Musik hätten die nächsten gut zwanzig Jahre wohl weniger Spass gemacht. “Magst du ein paar Platten hören?” war mein “Netflix & chill?”.
Kurz, nachdem ich ihn endgültig los war, diesen grösstenteils doch eher anstrengenden Single-Titel, wurde ich erneut Single.

[Die Plattenspielernadel hat das Ende ihrer Spirale erreicht. Ein rhythmisches Knacken erinnert daran, dass eine Fortsetzung einer Aktion bedarf. Zeit, das Vinyl zu wenden.]

Seite B

Aus der Single wurde ein Stream und aus mir ein Wieder-Single, ein Absorbierter. Musik kam nicht mehr via Luft aus Boxen in die Ohren, sondern via Kabel aus Stöpseln direkt und schalldicht in meinen Kopf. Musik war kein gemeinsames Erlebnis mehr, sondern Mittel zum Zweck der Isolation. Musik war im Tram, im Büro, im Warenhaus und im Wartesaal. Musik war überall, wo ich nicht sein wollte, und die beiden weissen Schnürchen machten allen klar, dass ich mit niemandem etwas zu tun haben wollte. Musik war prima. Doch das gewollte Alleinsein wurde irgendwann zwangsläufig zur Einsamkeit; statt konzentriert war ich immer öfter isoliert. Der Sog des geringsten Widerstands nahm mich gefangen, er klang verführerisch und tut es immer noch. Bald kamen Bilder dazu: Filme, Ausschnitte aus dem Leben anderer, die ich ständig bei mir trug, beachtete und beobachtete, wann es mir passte, und die ich deshalb zu kennen glaubte. Wenn ich sie traf, diese sogenannten Freunde, staunte ich, dass sie mich nicht grüssten, und stellte fest, dass andere meinten, was sie gepostet hätten, hätte ich gesehen haben müssen. Und sie hatten ja meistens recht.
“Es ist kompliziert” heisst das als Beziehungsstatus bei Facebook.
Meiner Beziehung zur Musik ging es nicht besser. Meine Bereitschaft, mich auf den dramaturgischen Aufbau einer Komposition einzulassen, wurde von der Skip-Taste nahezu zerstört, die Geduld litt ebenso und irgendwann stellte ich fest, dass Musik mich nicht mehr überraschen konnte. Kein Wunder, denn ohne Vertiefung gibt es keine Freude an der Musik: Wer nur die Glasur weglecken will, verpasst den ganzen Kuchen. Seit dieser Erkenntnis höre ich wieder Vinyl. Der Plattenspieler zwingt mich, mir Zeit zu nehmen, ich bin örtlich gebunden und konzentriert statt isoliert. Beim Plattenspieler trage ich keine Kopfhörer und bleibe ansprechbar. Seither spricht die Musik mich auch wieder an, sie bezieht mich persönlich ein in einen anregenden Austausch von Eindrücken und Ideen. Genau so, was im besten Fall auch meine Geschichten tun, hoffe ich.

Der französische Schriftsteller Victor Hugo schrieb 1864 in einem Essay: Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist. Ich wurde 99 Jahre danach geboren und habe seither wenig über Musik gelesen, das mehr Sinn gemacht hätte.

[Die Plattenspielernadel hat das Ende erneut erreicht. Das Knacken legt einen Rhythmus in den Hintergrund. Zeit, sich der Hülle zu widmen.]

Cover

Gedämpftes Saallicht. Auf der Bühne steht ein Tisch, über dessen Vorderkante ein kleiner Wasserfall aus Kabeln quillt, die sich über den Boden schlängeln und hinter dem Monitor verschwinden. Beim Tisch stehen ein Hocker und ein Ständer mit Mikrofon. Das Saallicht wird langsam ausgeblendet, das Publikumsgemurmel folgt mit etwas Verzögerung.

(Black)

Reeto von Gunten betritt die Bühne.

(Spot on Table)

Er geht zum Klapptisch und spricht, ohne sich hinzusetzen, vornübergebeugt ins Mikrophon:

Reeto (Voc. On)

“Check, check. Eis, zwöi.”

[Pause]

“One, two, one, two.”

[Pause]

“ROCK’N’ROLL! Siter da?!”

Klar ist man da. Aber man meldet sich nicht – schon gar nicht jetzt, wo man dazu aufgefordert wird. Ausserdem wollte man nicht zum Kasperlitheater. So wird das nichts mit der Stimmung, die er da heraufzubeschwören versucht. Er macht trotzdem weiter.

“I ghörenech nid!”

[Keine Reaktion]

[Pause]

“Check! Check!”

“One, two!”

“Check! Check!”

“One, two!”

Aus dieser Formel entsteht ein Loop, ein rhythmischer Teppich, auf welchem Reeto versucht, ein Frage-Antwort-Spiel mit dem Publikum zu inszenieren.

“WE IG MINI HAND GÄG FÜRE SCHTRECKE – bruchet dir mer se nid z’gäh.”

“WE IG MI HAND I D’LUFT SCHTRECKE – chöit dir mache, was dr weit.”

“U WE IG SÄGE: SÄGET AAH-YEEEAH! – chöit dir eifach da sitze u dänke: Chaschdervorschteue!”

[Der Loop bricht ab.]

“Das isch ds Lässige a Läsige.”

Reeto setzt sich an den Tisch. Die Lesung beginnt.

“Schön siter da. Grüessech!”


Inner Sleeve

Der Typ dort in der vordersten Reihe, der, der mit verschränkten Armen etwas zu demonstrativ nonchalant im Stuhl liegt mit seinem “Ich bin im Fall nur wegen ihr gekommen”-Gesichtsausdruck, und der Frau daneben, die aussieht, als würde sie sich sehr auf das jetzt Kommende freuen – der sitzt dort immer. Und er redet die ganze Show lang auf mich ein, ohne auch nur ein Wort zu sagen. “Wenn du jetzt nicht gleich wahnsinnig unterhaltend bist, stehe ich vor all diesen Leichtgläubigen hier auf und mache ihnen klar, wie entsetzlich lahm diese Vorstellung ist, und wie ich meine wertvolle Freizeit nicht für sowas opfere. Und dann nehme ich meine Freundin an der Hand und gehe raus, durch den Mittelgang, nein, ich gehe nicht, ich schreite! Würdevoll wie ein Anführer, der sich seiner Sache so sicher ist, wie du es dir nie zu erträumen wagst. Meine Freundin wird mit mir gehen und alle andern auch, sie werden mir folgen, raus an die frische Luft, wo alle merken, dass sie dort von keinen Scheinwerfern mehr verblendet werden. Und dann kannst du deinen unlustigen Scheiss in den gähnend leeren Saal hinaus trompeten, oder einfach für dich behalten. Weil du merkst, dass wir alle es merken, bloss du nicht: Du bist nichts ohne Mikrofon!”

Genau der. Der sitzt dort immer. Jedesmal. Überall. Und ich, ihm gegenüber, fühle mich zurückversetzt. In die Zeit vor dem Spiegel, als ich als Teenager popstarwürdige Souveränität trainierte.

2015
Aus “Single

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