Reeto von Gunten

Disco

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Jeden Samstag

Und jetzt tanzt er auch noch. Fast unmerklich. Lange ist er bloss da gestanden und hat sich an seinem Mineralwasser festgehalten, doch jetzt wird er im Sog der Musik ein Teil von ihr. Ein Teil des Hier und Jetzt, der Menschen um ihn herum – und doch bleibt er ganz sich selbst. Die anderen stehen alle entweder an der Bar oder bewegen sich auf der Tanzfläche. Er aber ist immer bei und in sich, ganz unabhängig der anderen. Er interessiert sich nicht für ungeschriebene Disco-Gesetze, er braucht sich nicht in Stimmung zu trinken. Er steht alleine im schmalen Niemandsland zwischen Bar und Tanzfläche, zwischen den ersten, die ihren Mut bereits feiern, und den meisten anderen, die noch daran arbeiten. Er tanzt. Mit angezogener Handbremse zwar, aber doch voll dabei. Wegen ihr ist er gekommen, wegen der Musik. Nicht für den Exzess oder fürs Gebalze, nein, er ist gekommen, um sich im Rhythmus der Nacht zu verlieren, so weit, bis die Anstrengungen des Alltags auf Null zurückgeschaltet sind, langsam von ihm abfallen und er sich ganz neu finden kann. Seine Absichten sind rein, sowas erkennt man sofort mit geübtem Auge. Hoffentlich merkt er nicht, dass ich ihn beobachte.

Girl, close your eyes. Let that rhythm get into you.


Er tanzt. Für sich, er ist alleine da. Nicht, weil er sich dazu überwinden musste, sondern weil er sich seiner sicher ist, in sich ruht. Er ist alleine, weil er alleine sein will. Noch. Noch hat er sie nicht gefunden, die Frau, die zu ihm passt, die ihn ergänzt und alles mit ihm teilt. Dabei gibt es sie, sie ist ihm näher, als er denkt. Aber im Moment spielt ihm das keine Rolle, denn er hat aufgehört, nach ihr zu suchen. Erst wer nicht mehr sucht, ist wirklich bereit zu finden. Er ist bereit und tanzt. Für sich. Und mich.

Don’t try to fight it, there ain’t nothin’ that you can do.

Die Nacht ist blutjung und er bildhübsch. Ich mag seine Haare und was er damit tut, die Beiläufigkeit, mit der er sie sich aus dem Gesicht streicht und hinter dem Ohr festklemmt. Nicht, weil er weiss, dass er so noch besser aussieht; er tut es, um besser hören zu können. Um der Musik den Weg freizumachen, den unmittelbareren Austausch zu ermöglichen. Dazu hält er den Kopf etwas schräg, als ob er dem Haar auf der anderen Seite Gelegenheit geben möchte, freier zu fliessen, diese sanfte Welle zu bilden, die sich mit ihm im Takt der Musik wiegt. Er mag es bestimmt, wenn man seine Haare streichelt. Er mag Massagen, gegenseitiges körperliches Auskundschaften, mit natürlicher Neugierde und Freude am Teilen. Er teilt alles. Und tanzt. Mit mir.

And we can ride the boogie, share that beat of love.

Wir finden zueinander, wiegen uns gemeinsam. Getrennt durch bloss ein paar Meter und doch vereint im Discobeat. Das wird unser Song werden. Er weiss es nicht, doch es geschieht genau jetzt. Synchron zu den Handclaps im Refrain schnippt er lässig mit den Fingern und wickelt mich gekonnt in seine Welt. Ich gehe etwas näher.

I wanna rock with you. (All night) We gonna rock the night away.

Ich darf ihn nicht anstarren, es könnte ihn aus unserem Moment reissen. Und doch will ich möglichst viel von ihm mitbekommen. Ich muss jetzt unauffällig bleiben, obwohl er mich beinahe in den Wahnsinn treibt mit seinem Lippenspiel. Er teilt sie fast lasziv, aber nicht billig-lasziv, auch nicht dekadent-lasziv – edellifestyle-blog-lasziv trifft es wohl am besten. Und wie er sie beinahe unmerklich schürzt, passend zum vom Refrain transportierten Gefühl. Er tanzt nahezu unbewegt im Stehen und singt mit seinen Lippen, die nur so viel der Lyrics mitformen, dass es nur eine aufmerksam Beobachtende mitbekommt. Darum auch diese Regungslosigkeit beim Tanzen: Er nimmt Rücksicht. Kein Mensch hätte auch nur die geringste Chance, mit ihm mitzuhalten. Er ist ein begnadeter Tänzer, der sich zurückh.lt. Kann gut sein, dass er zu Höherem berufen ist, ein Rising Star. Er hat das Charisma, den Look, das Center Stage-Gen – und zweifellos auch das Talent. Aber er ist hier, mitten unter uns. Fassbar, nahbar. Bescheidenheit ist seine Zier – und er tanzt mit niemandem als mit ihr. Es macht alles Sinn: seine Zurückhaltung, die Konzentration auf die Musik, seine Haare, die Lippen und sein Tanzstil. Uns trennen nur noch zwei, drei mutige Schritte – oder ein paar zufällig wirkende Moves. Ich kann ihn schon fast riechen und fühle jede einzelne seiner Bewegungen. Unter diesen ausgewaschenen Jeans und dem schlichten T-Shirt verbirgt sich ein Adoniskörper. Niemand kann ihn so lesen wie ich, weil niemand erkennt, was im Verborgenen schlummert, was alles in ihm steckt und nur darauf wartet, losgelassen zu werden. Wir werden uns lieben. Ekstatisch, hemmungslos und ohne Vorbehalte. Wir werden eins werden, uns ergänzen, uns gegenseitig vorantreiben, zu ungeahnten Ufern aufbrechen, fremde Galaxien entdecken und gleichzeitig immer dort zu Hause sein, wo auch der andere ist. Wir gehören zusammen, so, wie man nur zusammen gehören kann, wenn man füreinander geschaffen ist. Unsere Liebe ist grösser als alles Glück der Welt. Unsere Liebe wird die Welt zu einem besserer Ort werden lassen.

I wanna rock with you. (All night) Dance you into day. (Sun ...)

Shit!
Er schaut auf! Jetzt bloss nichts anmerken lassen, wegschauen, einfach weitertanzen. Was tut er da? Er geht! Easy. Auf die Toilette wahrscheinlich oder kurz raus um sich zu sammeln. Kann gut sein, dass er überrascht ist, weil er auf einmal fühlen kann, wozu wir bestimmt sind, er und ich. Das kann verwirrend wirken, wenn es so unmittelbar über einen hereinbricht. Kein Problem, ich bin da. Wir teilen das miteinander, diesen speziellen Moment, das muss ich einfach aushalten.
Ihm nachzugehen wäre jetzt das Schlimmste, er braucht einfach etwas Ruhe, einen Moment, um seine Gefühle zu ordnen. Ich kann warten. Was, wenn er nicht zurückkommt? Ich habe ihn noch nie gesehen, keine Ahnung, ob er von hier ist, vielleicht ist er Tourist oder geschäftlich auf Durchreise? Ob ich doch kurz raus sollte, bloss um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist? Das wäre wenig feinfühlig, das wäre plump. Nein, ich muss jetzt einfach entspannt bleiben. Unsere Liebe hält das aus. Er kommt bestimmt gleich wieder. Ich brauche einfach nur hier zu warten. Ich bin da und warte auf dich, Liebster!
Jeden Samstag. Versprochen.

2016
Aus “Single

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